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Objektepistemologien. Zum Verhältnis von Dingen und Wissen in 'multiplen Vergangenheiten'

21.06.2015

Ohne Objekte weder eine 'Antike' noch eine Wissenschaft des Vergangenen. Ohne die material präsenten, physisch vermessbaren und sinnlich erfahrbaren Dinge, die als 'Zeugen', 'Spuren' oder 'Quellen' vergangener kultureller Praxis oder naturräumlicher Gegebenheiten konzeptualisiert werden, wären – die Abwesenheit von Zeitzeugen vorausgesetzt – Narrative über dieses Vergangene rein fiktional.

Objekte sind also Voraussetzung und vielfach Gegenstand erzählter 'Vergangenheiten'. In diesen erzählten 'Vergangenheiten' erscheinen sie – in Abhängigkeit von Intention und Rezeption – in multiplen und variablen Identitäten, die ihnen zugeschrieben werden, so etwa als 'Quelle' oder 'Beleg', als 'Kunstwerk' oder 'Gebrauchsgegenstand', als 'Machtsymbol' oder 'Dispositiv', als 'Aktant' oder 'Hybrid' im Rahmen vergangener Praktiken. Objekte sind keine Träger von vergangenem Wissen im essentialistischen Sinn, können aber zur Generierung von Wissen über das Vergangene verwendet werden. Dieses Wissen bezieht sich direkt auf die Objekte oder – auf einer Metaebene – auf die Prämissen, Methoden und Instrumente der Generierung von Wissen über Objekte.

Objekte sind jedoch nicht nur Gegenstand erzählter 'Vergangenheiten', sondern auch 'Gegenstände der Gegenwart'. Sie sind nicht nur mental konstruierte Entitäten mit jeweils variabler Identität in wissenschaftlichen Narrativen, sondern nehmen sinnlich wahrnehmbar und haptisch 'begreifbar' auch an der gegenwärtigen Lebenswelt und ihren kulturellen Praktiken teil: an ihnen, mit ihnen und infolge von ihnen kann in der Gegenwart gehandelt werden. Sie werden ausgegraben und gesammelt, materialwissenschaftlich analysiert und naturwissenschaftlich vermessen, konserviert und restauriert, klassifiziert und inventarisiert, in Magazinen eingelagert und in Museen ausgestellt, digitalisiert und repliziert, als Kulturgut geschützt und als Kunstwerk gehandelt, als Stifter kultureller und nationaler Identität politisiert. Auch alle diese gegenwärtigen Handlungsroutinen basieren auf jeweils variierenden Zuschreibungen an und Wissen über Objekte, und mit jeder neuen Handlung wird neues Wissen generiert. Auch dieses Wissen bezieht sich sowohl auf die Objekte selbst als auch auf die Voraussetzungen und Verfahren der Wissensgewinnung.

Schließlich beinhaltet die gegenwärtige oder zukünftige Handlungsoption an, mit oder infolge von Objekten auch stets eine wirtschaftliche, politische sowie eine ethische Dimension, die ebenfalls wissensbasiert sind und deren Prämissen es gleichermaßen zu klären gilt.

Im Rahmen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Vergangenen zur Konstruktion 'multipler Vergangenheiten' fragen Objektepistemologien also, allgemein gesprochen, nach dem "Was?", dem "Wie?", dem "Warum (so)?" sowie dem "Wozu?" von vergangenen und gegenwärtigen Diskursen zu, Konzeptualisierungen von und Handlungsroutinen an, mit und infolge von Objekten.

Im Zentrum des Interesses sollen Dinge stehen, die in vergangenen Gesellschaften hergestellt und/oder mit Bedeutung versehen wurden. Dabei ist zu unterscheiden zwischen Dingen, die bis in die Gegenwart überdauert haben und damit eine gegenwärtige oder zukünftige Handlungsoption (z. B. Objekten in einem Museum) bieten, und solchen Objekten, die nicht mehr erhalten sind (z. B. rezent zerstörte Dinge). Weiterhin ist auf diejenigen Dinge zu fokussieren, die zur Generierung von Objektwissen verwendet wurden und werden (z. B. analoge und digitale Repräsentations- und Reproduktionsmedien). Einen Sonderfall stellen dabei (rezente) Repliken von Dingen aus vergangenen Gesellschaften dar. Schließlich sind auch diejenigen 'Objekte' von Interesse, die nie als physische, material präsente Objekt in der Vergangenheit existiert haben, für die aber ein wie auch immer gearteter Bezug zu Vergangenem postuliert werden kann, sei es, dass sie rein fiktive Objekte etwa in einem literarischen Narrativ sind, oder sei es, dass es sich um digitale Objekte handelt, die z. B. unter Verwendung von antiken Artefakten generiert wurden (z. B. 3D-Objektmodelle, Rekonstruktionen, Visualisierungen). Trotz des Fokus auf Dinge soll dabei nicht die Bedeutung von Assemblagen und Praktiken vernachlässigt werden. Nur durch sie können aus Einzelobjekten letztlich 'Geschichten über die Vergangenheit' entstehen.

Das hier kurz angerissene Thema Objektepistemologien ist inhaltlich wie methodisch sehr vielfältig, besitzt eine große wissenschaftliche Dynamik und kann unseres Erachtens nur im interdisziplinären Dialog erschlossen werden. Ziel ist es, die Rolle der Objektepistemologien bei der Beschreibung und Analyse kultureller Dynamiken in der Vergangenheit sowie als theoretisch-methodologisches Scharnier etwa zwischen Archäologien, altertumswissenschaftlichen Philologien, Material- und Konservierungswissenschaft, Museologie, Informationswissenschaft sowie Kulturgutforschung spielen können, näher zu bestimmen. Folgende Fragen sollen dabei für die drei geplanten Sektionen leitend sein:

Sektion 1: Was sind Objekte?
Wie können die Wechselwirkungen zwischen Konzeptualisierungen von Dingen und epistemischen Praktiken systematisch beschrieben und für die altertumswissenschaftliche Forschungspraxis fruchtbar gemacht werden?

Sektion 2: 'Gegenstände' des Wissens
Welches sind die Merkmale des transdisziplinären Raums, in dem Wissen über Dinge zur Konstruktion multipler Vergangenheiten erzeugt wird oder als Grundlage für Handeln an, mit und infolge von solchen Dingen dient?

Sektion 3: Objekte des Vergangenen
Was kennzeichnet in wissenschafts- und theoriegeschichtlicher Hinsicht epistemische Praktiken an, mit und infolge von Dingen, die zur Konstruktion altertumswissenschaftlicher Narrative vollzogen wurden bzw. werden?

Zeit & Ort

21.06.2015

Topoi-Haus Dahlem
Hittorfstraße 18
14195 Berlin